Unter dem Motto “Zeitzeugen erinnern sich” lädt die KGS zu besonderen Projekten Senioren ein, um sich von ihnen die Zeit des Dritten Reiches und die Ära danach erzählen zu lassen und mit ihnen darüber zu diskutieren. Im Rahmen dieser Veranstaltungen sind am Dienstag, 11. Oktober, erneut vier ältere Hannoveraner in die Klasse von Stefan Bahls gekommen, um dort ihre Erlebnisse als Jugendliche im Dritten Reich und im Krieg den 29 15- und 16-jährigen Schülern zu schildern.
Die Klasse befasst sich mit dem Thema Deutschland nach 1945, aber auch mit dem Leben von Jugendlichen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus und, daraus resultierend, im Krieg und der Nachkriegszeit.
Deshalb hatten sich unter der Vermittlung von Dr. Anette Winkelmann, ehemalige Ärztin und Psychotherapeutin, zum dritten Mal mit ihr drei Menschen bereit erklärt, den Schülern Rede und Antwort zu stehen und ihre Geschichten zu erzählen. In einem kurzen einleitenden Statement führte Winkelmann (Jahrgang 1937) aus, dass sich im Krieg und danach kaum jemand um die Kinder und Jugendlichen kümmerte. Aufbau und Überleben hatte Vorrang, Schulbesuch war eher zweitrangig.
Danach erzählten die drei Mitbesucher von ihren Lebensschicksalen.
Maria-Elisabeth Lohmann (Jahrgang 1933) verbrachte ihre Jugend in Hannover und berichtete eindrucksvoll vom Feuersturm, der die Landeshauptstadt am 9. Oktober 1943 traf. In der Innenstadt überlebte sie mit ihrer Familie im Luftschutzkeller unter der Unfallklinik, flüchtete danach mit ihren vier Geschwistern, in nasse Decken gehüllt, über den Aegi zum Maschsee und war drei Tage getrennt von ihren Eltern. Nachdem sie alle überlebt hatten, wurden sie aufgeteilt und kamen nach Hildesheim und Ottbergen. 1946 kam die Familie vereint nach Hannover zurück.
Horst Becker, Jahrgang 1929, war in der Hitlerjugend und im Wehrertüchtigungslager. Er war abgestellt zum Panzergrabenbau ins Saarland, aber als 14-Jähriger durfte er von dort fort und kam mit der Hitlerjugend bis nach Halle. Hier sollte er kämpfen, konnte sich aber seiner Uniform entledigen und wurde von den bereits eingetroffenen Amerikanern weggeschickt. “Ich war mit einem Aufatmen davongekommen”, sagte er sichtlich bewegt. “Eine Schulausbildung für mich gab es nicht. Nach den Bombenangriffen mussten wir helfen, den Schutt wegzuräumen, dann wurden wir für den Krieg ausgebildet. Nach dem Krieg habe ich etwas Schule nachgeholt, damit ich überhaupt Maurer werden konnte”, beendete er seine Schilderung.
Wolfgang Müller-Judex (Jahrgang 1931) wurde landverschickt aus Berlin nach Landsberg an der Warthe. Er besuchte die Schule in seinem Wehrertüchtigungslager. Dann gelang es ihm, von dort zu verschwinden und sich zu seiner Mutter nach Köslin durchzuschlagen. Am 1. März 1945 flohen sie mit Wehrmachtseinheiten nach Westen. Es ging über Stettin und Güstrow nach Lübeck, wo er am 1. Mai 45 eintraf. Da Flüchtlinge nicht unbedingt zu den willkommenen Menschen gehörten, musste er harte Arbeit beim Bauern leisten, anstatt zur Schule zu gehen. Es gab nichts zu essen. “Der Bauer gab freiwillig nichts her, obwohl die Birnen am Boden verfaulten”, so Müller-Judex. Also stahl er ihm vor Weihnachten drei von vier Blumenkohlköpfen. “Eine kleine Rache für die schlechte Behandlung”, schloss er.
Die Schüler waren sichtlich interessiert und es entspann sich ein reger Dialog, der sich um viele Fragen des Alltags drehte.
Natalie Schnelle (15) und Alwina Gerlitz (15) zeigten sich auch beeindruckt. “Das ist alles sehr lebendig und hat einen Wert für mich”, sagte Natalie. “Ich finde es gut, dass die Zeitzeugen kommen.” Und Alwina ergänzte: “Das alles hat mich schon in den Dokumentarfilmen erschüttert, aber nun ist das hautnah.” Alwina beschäftigt sich im Rahmen des Projektes mit dem “Alltag nach 1945 und dem Weiterleben, dem Wiederaufbau”. Natalie interessieren die politischen Hintergründe und die Entnazifizierung als Schwerpunkt. Beiden ist es unverständlich, wenn sich Jugendliche heute noch als Neo-Nazis für den Nationalsozialismus und seine Ideologie begeistern. “Ja”, sagten sie, “es gibt auch hier an der Schule solche Jugendliche. Wir kennen sie. Die zeigen den Hitlergruß und machen Späße damit.”
Aber dieser Unterricht von Bahls scheint seine Wirkung auf die jungen Menschen nicht zu verfehlen. Denn keiner, der diese vier Zeitzeugen gehört hat, will ernstlich die Verhältnisse aus der Nazizeit zurückholen – hoffen wir also, dass sie noch oft in die Schule kommen können. (jph/sehnde-news.de)
Kommentar schreiben